Rupert Riedl

Die Entwicklung der Evolutionären Erkenntnistheorie in Wien

Die Evolutionäre Erkenntnistheorie ist ein sehr weites Feld. Sie hat seit Darwin eine mehr als hundertjährige Tradition. Über sie ist viel geschrieben worden. Die folgenden Ausführungen beschränken sich daher nur auf ihre Entwicklung in Wien, und auch da nur auf die Hauptfiguren dieser Geschichte, betrachtet mit den Augen eines Zeitzeugen, der sich selbst an diesem Unternehmen beteiligt hatte.

Evolutionäre Erkenntnistheorie und Darwinsche Evolutionstheorie

Die meisten Philosophen, die im Unterschied zu früher die Evolutionstheorie Darwins abgelehnt hatten, sind zwar heutzutage bereit, sie als empirisch begründete wenngleich äußerst komplexe naturwissenschaftliche Theorie grundsätzlich zu akzeptieren, betrachten jedoch die Evolutionäre Erkenntnistheorie als ein Irrtum und Missverständnis von Darwins ursprünglichen rein auf empirischen Beobachtungen begründeten Intentionen. Inzwischen ist aber schon längst klar geworden, dass die Grundidee der Evolutionären Erkenntnistheorie, dass es ein im biologischen Sinn angeborenes Wissen vor aller Erfahrung gibt, von Darwin selbst stammt.Er hat diese Auffassung als philosophisches Konzept, wie aus seinen nachgelassenen Notizbüchern eindeutig hervorgeht, bereits auf Platons Ideenlehre angewendet, wenn er sagt, dass man an Stelle der metaphysischen Präexistenz, in der die Seele vor dem Leib die Ideen angeschaut hat, die Präexistenz des Affen vor dem Menschen annehmen muss. Und nicht nur Darwins philosophischer Zeitgenosse Spencer sondern auch eine Reihe von Neokantianern haben sich auf Darwins Evolutionstheorie berufend eine phylogenetische Interpretation des Kantischen Apriori, d.h. der so genannten Anschauungsformen Raum und Zeit und der Denkkategorien wie z.B. der „Kausalität“ vorgeschlagen.

Auch in Wien beginnt die Geschichte der Evolutionären Erkenntnistheorie noch zu Lebzeiten Darwins. Darwin hatte unter den führenden Wissenschaftlern der Monarchie große Anhänger. Er war 1871 zum korrespondierenden Mitglied und 1875 sogar zum Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften gewählt worden. Zwei der weit über ihr Fachgebiet einflussreiche Physiker, Ludwig Boltzmann und Ernst Mach,waren sofort bereit Darwins Evolutionstheorie im Sinne einer universalen Evolution zu akzeptieren und daraus die philosophischen Konsequenzen zu ziehen. Mach hat am18. Oktober 1883 bei Antritt des Rektorats der deutschen Universität in Prag „Über Umbildung und Anpassung im naturwissenschaftlichen Denken“ gesprochen und dabei gesagt: „Noch sind keine drei Dezennien verflossen, seit Darwin die Grundzüge seiner Entwicklungslehre ausgesprochen hat, und schon sehen wir diesen Gedanken auf allen, selbst den fernliegendsten Gebieten Wurzeln fassen. Überall, in den historischen, in den Sprachwissenschaften, selbst in den physikalischen Wissenschaften hören wir die Schlagworte: Vererbung, Anpassung, Auslese. Man spricht vom Kampf ums Dasein unter Himmelskörpern, vom Kampf ums Dasein unter Molekülen.“ Später fügt er der Buchausgabe der Rede eine Anmerkung an, in der es heißt:„Der in den folgenden Zeilen dargelegte Gedanke ist im Wesentlichen weder neu noch fern liegend. Ich selbst habe ihn schon 1866 und auch später mehrmals berührt … Auch von anderen ist diese Idee jedenfalls schon behandelt worden; sie liegt eben in der Luft. Man sehe in meinen Worten nur den Ausdruck des Umstandes, dass dem Einfluss einer bedeutenden und weittragenden Idee sich niemand entziehen kann.“ Darwin selbst war zwar in seinen Äußerungen über diese Erweiterungen der Evolutionstheorie zu einer Idee einer universalen Evolution, die nicht nur alle Bereiche der Naturwissenschaften einschließt, sehr vorsichtig, sah aber darin eindeutig das grundlegende Forschungsprogramm der Zukunft. Das geht aus einer Bemerkung aus einem Schreiben an einen Zeitgenossen hervor, die da lautet: „Das Prinzip des Lebens wird eines Tages als Teil oder Folge eines allgemeinen Gesetzes erkannt werden“ (“The principle of life will be shown to be a part of, or consequence of, some general law”. Darwin, C. R. to Wallich, G. C., 28 Mar 1882). Besonders vorsichtig war er aber in der Anwendung des Evolutionsprinzips auf die Entstehung des menschlichen Geistes und seiner Erkenntnisfähigkeit, wenn er in seinem Buch über die Abstammung des Menschen darauf hinweist, dass solche Fragen Probleme für eine „ferne Zukunft“ sind, wenn sie überhaupt jemals durch den Menschen gelöst werden können: „In welcher Weise sich die Geisteskräfte in den niedrigsten Organismen entwickelt haben, ist eine nicht weniger hoffnungslose Frage, als die, wie das Leben selbst zuerst entstanden ist.“

Ernst Mach sollte nur wenige Jahrzehnte später im Rahmen seiner Lehrverpflichtung auf dem Lehrstuhl für Philosophie und Geschichte der Naturwissenschaften zumindest, was die Evolutionäre Erkenntnistheorie betrifft, die ersten aber grundlegenden Ansätze zur Lösung dieser Probleme liefern. Mit ihm und seinem Nachfolger Boltzmann beginnt die Geschichte der Evolutionären Erkenntnistheorie in Wien.

Mach und Boltzmann als Vorläufer der Evolutionären Erkenntnistheorie

Mach und Boltzmann sind zwar als Vorläufer des Wiener Kreises allgemein bekannt, sie waren aber auch die Vorläufer der Evolutionären Erkenntnistheorie. Ernst Mach hatte wohl fundierte Kenntnisse in der zeitgenössischen Physiologie,als er seine erkenntnistheoretischen Überlegungen im Rahmen eines Forschungsprogramms der Sinnesphysiologie und empirischen Psychologie formulierte. Erkenntnistheoretische Fragestellungen, die für Mach kaum von psychologischen zu trennen sind, sollen nach seiner Auffassung im Rahmen der Sinnesphysiologie behandelt werden. Ausgangspunkt sind die Elemente oder genauer gesagt die Funktionalbeziehungen der Elemente, die er „Empfindungen“ nennt, aus denen sich Wahrnehmung, Vorstellungen, Erinnerungen und Begriffe und weitere komplexere Gebilde unserer Erkenntnis bis hin zu wissenschaftlichen Theorien aufbauen. Dem Vorwurf eines sensualistischen Positivismus, der alle Erkenntnis auf Sinnesempfindung reduziert und daher auch als subjektiver Idealismus oder Solipsismus interpretiert werden kann, entgeht Mach allein durch seine am Darwinschen Selektionsprinzip orientierte Erkenntnistheorie, die er selbst als eine naturalistische Interpretation der Lehre Kants ansieht. Sie lässt sich durch folgende Punkte zusammenfassen:

Schon sehr früh, bereits 1866, erkennt er die enge Beziehung von Leben und Erkennen: „Der Mensch selbst ist mit seinem Denken und Forschen nichts als ein Stück Naturleben.“ Später heißt es in seiner Rektoratsrede an der Universität in Prag: „Die Erkenntnis ist eine Äußerung der organischen Natur.“ Wenn Mach auch jeden gewaltsamen Vergleich zwischen „Lebewesen“ und Gedanken“ ausdrücklich vermeiden wollte, sah er es als eine heuristische Analogie an, „das Wachstum der Naturerkenntnis im Lichte der Entwicklungslehre zu betrachten,“ wobei er sich stets bewusst war, dass „vollkommen zutreffende Ansichten natürlich nur durch das Studium der von Darwin betonten Tatsachen selbst, und nicht durch diese Analogien allein gewonnen werden.“

Kants Ansicht enthält nach Mach einen Wahrheitskern. Denn die Anschauungsformen Raum und Zeitwurzeln in der physiologischen Konstitution des Menschen und werden erst später zum geometrisch-physikalischen Raum und zur metrischen Zeit entwickelt.

Alles biologische Geschehen hat nach Mach begrifflichen, abstrahierenden Charakter Umgekehrt ist daher auch die abstrakte, bewusste Begriffsbildung des Menschen sowohl im Alltag als auch in der Wissenschaft auf das biologische Phänomen der Reaktion eines Lebewesens auf bestimmte Umweltteile oder Umweltsituationen zurückzuführen. Diesen biologischen Ursprung der Begriffe erkannt zu haben, ist das unbestrittene Verdienst von Mach, was bereits ausdrücklich auch von Popper hervorgehoben wurde.

Mach geht jedoch noch einen Schritt weiter: Nicht nur hat die Begriffsbildung ihren biologisch-evolutionären Ursprung in den einfachsten Reaktionen der Lebewesen, sondern auch „das Denken,welches sich vor und neben der Einzelerfahrung für diese formgebend in uns meldet,“ ist nach Mach „auf die von unseren Vorfahren meistgeübten Denkneigungen zurückzuführen … Ein solches Erbstück ist wohl die Denkgewohnheit, alle Vorgänge der Umgebung nach Möglichkeit in die Beziehung der Ursache und Wirkung zusetzen.“ Auch die Idee der Anpassungsmängel unserer von den Vorfahren ererbten Denkkategorien wird von Mach bereits erahnt, wenn er von deren Schwächen und Einseitigkeiten spricht, aber trotzdem feststellt: „Sie werden auch für unsere Verhältnisse noch nicht ganz unpassend sein, noch immer einen gewissen Wert haben.“ Deshalb charakterisiert er sie auch negativ als „vererbte Vorurteile.“ Trotzdem hält er es für nicht wohl getan, diesen intellektuellen Erbstücken mit Missachtung zu begegnen, und ebenso unklug, deren Grundlagen nicht weiter nachzugehen und geradezu prophetisch klingen seine Worte, wenn er – den Titel der Lorenzschen Pionierarbeit aus dem Jahre 1941 mehr als dreißig Jahre zuvor am Schluss der zweiten Auflage seiner Populärwissenschaftlichen Vorlesungen fast wörtlich vorweg nehmend – fragt: „Wer weiß, ob das Kant’sche Apriori auf dem angedeuteten Wege nicht eine neue Beleuchtung erfahren kann?“ Dass diese Frage erst heute wirklich beantwortet worden ist, hat seinen besonderen Grund: Es fehlte die eigentliche Basis einer solchen evolutionären Betrachtungsweise in der biologischen Verhaltensforschung – die Genetik. Das wusste schon Mach, der jede weitere Diskussion der vererbten Erkenntnisstrukturen mit der Feststellung abbrechen musste, „da wir ein Verständnis der Übertragung durch Vererbung doch nicht haben.“

Boltzmanns Erkenntnistheorie steht nicht nur biographisch in enge Zusammenhang mit den Ideen, wie sie Ernst Mach entwickelt hat, sondern es gibt auch grundsätzliche Übereinstimmungen inhaltlich-systematischer Art. Boltzmann hat zwar Machs biologische, an der Evolutionstheorie Darwins orientierte Erkenntnistheorie grundsätzlich akzeptiert. Aber in deren Weiterentwicklung hat er den sensualistischen Positivismus von Mach überwunden und ist zu einer eigenen selbständigen Erkenntnistheorie gekommen. Die Übereinstimmungen zwischen Boltzmann und Mach werden daher übertroffen von den Unterschieden, die Boltzmann in der Fortsetzung von Machs Ideen machen musste. Es sind vor allem diese Unterschiede zu Mach, die Boltzmanns Erkenntnistheorie auch für die heutige Diskussion relevant erscheinen lassen. Und zwar sind es die folgenden Punkte:

Im Unterschied zu Ernst Mach geht Boltzmann nicht so sehr von der Sinnesphysiologie, sondern von der Hirnphysiologie aus. Für Boltzmann ist daher der zentrale Verrechnungsapparat des menschlichen Gehirns der Träger des Mechanismus der menschlichen Erkenntnisfähigkeit. Er spricht daher ausdrücklich von einem „Mechanismus im Menschenkopf“, dessen Organ das menschliche Gehirn ist: „Das Gehirn betrachten wir als den Apparat, das Organ zur Herstellung der Weltbilder, welches sich wegen der großen Nützlichkeit dieser Weltbilder für die Erhaltung der Art entsprechend der Darwinschen Theorie beim Menschen gerade so zur besonderen Vollkommenheit herausbildete, wie bei der Giraffe der Hals,beim Storch der Schnabel zu ungewöhnlicher Länge.“ Mit diesem, sowohl phylogenetisch wie ontogenetisch zu einem Extremorgan entwickelten Gehirn gelingt es nach Boltzmann dem Menschen „als denkendes Wesen“, die „Erkenntnisschwelle immer günstiger zu gestalten.“ Auch gegenüber Mach ist diese Idee neu. Was Boltzmann hier betont, ist die historisch,an der Geschichte der Physik selbst nachweisbare Tatsache, dass sich diese angeborenen Strukturen, die primär für das Überleben der biologischen Art entwickelt worden sind, modifizieren lassen. Damit wird jedoch der genetische Determinismus durchbrochen, der die Debatte um den Darwinismus seit jeher negativ beeinflusst hat.

Wissenschaftstheoretisch bedeutet das den Vorrang der Hypothese bzw. Theorie vor der Sinneserfahrung. Die Geschichte der Physik zeigt, dass der eigentliche Fortschritt der Wissenschaft nicht in einer Kumulation der Fakten, sondern in einer Modifikation unserer Theorien als innere Anpassung der Gedanken untereinander besteht. Die Anpassung unserer Theorien an die Wirklichkeit erfolgt erst nachträglich durch experimentelle Überprüfung. Während jedoch Ernst Mach im Sinne seines Ökonomieprinzips eine instrumentalistische Auffassung von Gesetzeshypothesen und Theorien vertrat, war Boltzmann von allem Anfang an der Überzeugung, dass unsere Hypothesen und Theorien eine Entsprechung in der Realität an sich haben müssen. Sie sind Darstellungsmöglichkeiten der Realität und nicht nur Instrumente unseres Denkens. Um diesen hypothetischen Realismus zu rechtfertigen, benötigt Boltzmann eine Theorie des „Weltbildapparates“, die weit über die Machsche Empfindungstheorie hinaus geht.

Aber auch bei Boltzmann ist die Berufung auf Darwins Evolutionstheorie unübersehbar. Er hat jedoch selbst keineswegs in dieser Angelegenheit einen Prioritätsanspruch erhoben. Vielmehr zögert er auch nicht, seinen Gegner in Sachen Atomtheorie Ernst Mach zu zitieren, der ja noch vor ihm nicht nur die Vorstellung einer Evolution des menschlichen Erkenntnisapparates sondern auch einer der biologischen analogen Evolution der menschlichen Erkenntnis vertreten hat. Für Lorenz selbst war es klar, dass die auf der Darwinschen Evolutionstheorie aufbauende vergleichende Verhaltensforschung, die ähnliche Verhaltensweisen von unterschiedlichen Lebewesen auf gemeinsame Abstammung und somit echte Verwandtschaft zurückführt, von einer abgestuften Ähnlichkeit ausgehen muss, die auch die artspezifischen Unterschiede und letzten Endes auch die Sonderstellung des Menschen anerkennt. Diese Sonderstellung des Menschen ist eine biologische Tatsache. Denn sie beruht auf der einzigartigen Struktur und Funktion des Menschenhirns als eines„Weltbild-Apparates“, wie sich Lorenz unabhängig von Boltzmann – aber völlig konform mit ihm – ausgedrückt hat.

Wie wichtig jedoch die allgemeinen biologischen Grundlagen menschlicher Erkenntnis auch für Mach und Boltzmann waren, geht daraus hervor, dass beide in intensiver und durchaus ernst zu nehmender Weise, Verhaltensforschung ganz im Lorenzschen Sinn betrieben haben. Mach hat sogar eine wissenschaftliche Veröffentlichung auf dem Gebiet der Vergleichenden Verhaltensforschung aufzuweisen. In seinem Todesjahr 1916 erschien in der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift in Jena eine Arbeit von ihm unter dem Titel: „Einige vergleichende Tier- und Menschenpsychologische Skizzen“. Tatsächlich hatte Mach, der ähnlich wie Lorenz der Meinung war, „dass das Leben mit Tieren unvergleichlich mehr wert ist als bloße Beobachtung“ acht Jahre lang mit einem Sperling zusammengelebt, den er wegen seiner schwächlichen Statur „Krepaunzl“ nannte und mit dem er tagtäglich Versuche anstellte. Zwischen Mach und Boltzmann gibt es aber auch in dieser Hinsicht, was die Tierpsychologie betrifft, einen Unterschied. Boltzmann hatte in Graz einen Schäferhund, der täglich um die Mittagszeit von zu Hause in die Stadt gelaufen kam, vor dem Institut wartete und seinen Herrn in ein nahe gelegenes Gasthaus begleitete. Mag das nun ein Zufall sein oder nicht: Während man in den Schriften von Mach immer wieder Bezüge zum Verhalten von Insekten und Vögeln findet, tauchen bei Boltzmann häufig auch bei höchst abstrakten Fragestellungen Hinweise auf das Verhalten von Hunden auf.

Auf die Frage nach dem Fundament seiner erkenntnistheoretischen Auffassungen hat Boltzmann eine klare Antwort gegeben. Sie lautet: „Nach meiner Ansicht ist alles Heil für die Philosophie zu erwarten von der Lehre Darwins.“ Solange man den menschlichen Geist, die menschliche Erkenntnisfähigkeit, und die sogenannten Denkgesetze unabhängig von ihrer evolutionären Entstehung betrachtet, bleiben sie in ihren Funktionen und Leistungen unerklärlich. Erst wenn man sie als angeborene und vererbte Fähigkeiten ansieht, die sich in einer Jahrmillionen dauernden Auseinandersetzung mit einer reichhaltigen Umwelt ausgebildet haben, wird man sowohl ihr Funktionieren als auch ihr Versagen verstehen können.

Von Mach und Boltzmann zu Popper

Der Begriff “Evolutionäre Erkenntnistheorie” hat nachweisbar seinen Ursprung in Poppers Philosophie. Denn er wurde zum ersten Mal von Donald T. Campbell (1974) zur Charakterisierung einiger grundlegender Überlegungen Poppers verwendet, die sich durch dessen gesamtes Werk von den frühen Anfängen bis zu seinen letzten Veröffentlichungen hindurch ziehen. Die hinter diesem Begriff stehende Grundidee ist jedoch nicht neu. Der amerikanische Psychologe Campbell hat in einem späteren Aufsatz (1977) die Anwendung der Evolutionstheorie auf die kognitiven Fähigkeiten der Menschen eine „immer wiederkehrende Ketzerei“ bezeichnet und nachgewiesen, dass mindestens 22 Philosophen und 18 Naturwissenschaftler, Biologen, Physiker und Psychologen die Vermutung zum Ausdruck gebracht haben, dass die vor allem von Kant hervorgehobenen apriorischen Wahrnehmungsformen und Denkkategorien das Produkt der phylogenetischen Entwicklung sind. Popper selbst war sich dieser Tradition bewusst, wie aus folgendem Zitat hervorgeht: „Soweit ich sehe stammt der Ausdruck ‚evolutionäre Erkenntnistheorie‘ von meinem Freund Donald T. Campbell. Der Gedanke ist ein nachdarwinistischer und geht auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück.“

Ausgangspunkt von Poppers eigenen Überlegungen zur Evolutionären Erkenntnistheorie war jedoch eine Bemerkung Machs in den Prinzipien der Wärmelehre, die sich mit der Frage nach der Entstehung des Denkens und der Begriffe in biologisch-psychologischem Sinn auseinandersetzt. Mach zeigt dort, dass in objektiv verschiedenen Situationen gleichartige Reaktionen auftreten können. In dieser gegenseitigen Beziehung von Reaktion und Rezeption sieht er daher die psychologische Grundlage des „Begriffs“, was Popper mit folgendem Zitat belegt: „Worauf in gleicher Wiese reagiert wird, das fällt unter einen Begriff. So vielerlei Reaktionen, so vielerlei Begriffe.“ Diese Idee Machs, die Popper bereits in frühen Jahren in dem Manuskript über „Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie“ zu einer „deduktivistischen Erkenntnispsychologie“ ausgearbeitet hat, berührt sich ebenfalls in wichtigen Punkten mit der vom Wiener Kreis so wenig geschätzten Erkenntnistheorie Kants. Denn die Gegenüberstellung der Rezeptionen als materiale Bedingungen der Reaktion, deren formale Bedingungen im reagierenden Apparat selbst gelegen sind, entspricht nach Poppers Meinung weitgehend der Kantschen Unterscheidung von Aposteriori und Apriori. Kant hat ja selbst nach Popper oft nicht mit genügender Strenge zwischen Erkenntnistheorie und Erkenntnispsychologie unterschieden. Sein Ausdruck „a priori“ hat zwar zweifellos in erster Linie erkenntnistheoretische Bedeutung; er könnte übersetzt werden: „unabhängig von aller Erfahrung gültig“, bezieht sich also nicht auf die Genese, sondern auf die Geltung. Aber es ist nach Popper natürlich auch möglich, dem Kantischen Ausdruck „a priori“ einen erkenntnispsychologischen genetischen Sinn zu geben, also etwa: „nicht auf Grund von Erfahrung entstanden.“

Popper hat allerdings auch behauptet, dass damit nur eines erreicht worden ist: „Die Kantische Frage nach der ‚befremdlichen Einstimmung‘ zwischen unserem Intellekt und den Verhältnissen der Umwelt ist auf die allgemeinere biologische Frage der Anpassung zurückgeführt. Sie hat, so aufgefasst, keine erkenntnistheoretische Sonderstellung vor anderen Fragen der biologischen Anpassung. Der Apriorismus der intellektuellen Grundfunktionen erweist sich also für Popper als „genetischer Apriorismus“ und die Frage, wieso unsere „angeborenen“ intellektuellen Grundfunktionen zur Umwelt passen, wäre nach seiner Meinung „grundsätzlich auf eine Stufe zu stellen mit der Frage, wie denn ein Vogel zu seinen Flügeln kommen kann, noch ehe er Gelegenheit hat, sie in der Luft zu gebrauchen.“ Mit dieser Formulierung nimmt Popper frühzeitig – nämlich schon in dem nur fragmentarisch erhaltenen Manuskript über die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie aus den Anfängen der 30iger Jahre die „phylogenetische Erkenntnistheorie“ als ethologisches Forschungsprogramm vorweg, wie es fast ein Jahrzehnt später von Konrad Lorenz mit seinem bekannten Aufsatz „Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie“ (1941) entwickelt worden ist. Denn Lorenz stellt dort fast mit den gleichen Worten aber mit anderen Beispielen fest: „Unsere vor jeder individuellen Erfahrung festliegenden Anschauungsformen und Kategorien passen aus ganz denselben Gründen auf die Außenwelt, aus denen der Huf des Pferdes schon vor seiner Geburt auf den Steppenboden, die Flosse des Fisches, schon ehe er dem Ei entschlüpft, ins Wasser passt.“

Die Evolutionäre Erkenntnistheorie als ethologisches Forschungsprogramm

Lorenz hat die Evolutionäre Erkenntnistheorie sowohl als einen integrierten Teil, als auch als das wichtigste Resultat seiner vergleichenden Verhaltensforschung angesehen. Und wenn Lorenz von Evolutionärer Erkenntnistheorie gesprochen hat, dann hat er darunter von allen Anfang an eine biologische Begründung der philosophischen Erkenntnistheorie gedacht und zwar ausdrücklich der apriorischen Erkenntnistheorie Kants. Das ist ein viel weitergehender Anspruch, als die für den Verhaltensbiologen geradezu selbstverständliche Vorstellung von der Begründung der empirisch-experimentellen Kognitionspsychologie durch eine „kognitive Ethologie“. Lorenz selbst hat seine Überlegungen ursprünglich als „phylogenetische Erkenntnistheorie“ bezeichnet.Erst viel später hat er selbst dafür die deutsche Übersetzung des englischen Ausdrucks “evolutionary epistemology” akzeptiert. Der Zugang zur evolutionären Erkenntnistheorie kann daher im Sinne von Lorenz nicht über eine bloße Metapher zur biologischen Evolutionstheorie selbst erfolgen, die sich ja vordem Auftreten der Ethologie lediglich mit den somatischen Veränderungen der Arten der Lebewesen beschäftigte, sondern nur über eine evolutionäre Ethologie, d.h. über die vergleichende Verhaltensforschung, die davon ausgeht, dass auch die Verhaltensweisen der Lebewesen und insbesondere die kognitiven Verhaltensweisen oder Erkenntnismechanismen genauso wie Zähne und Knochen artspezifische Merkmale sind, deren Ähnlichkeiten auf Verwandtschaft beruhen. Nach der Auffassung von Lorenz als dem Begründer dieser biologischen Disziplin ist die vergleichende Verhaltensforschung keineswegs bloß Tierpsychologie, obwohl sie zum größten Teil von Tieren handelt, sondern hat im Grund genommen den Menschen selbst zum Gegenstand. Ohne Kenntnis der vormenschlichen Lebewesen ist für Lorenz kein Verständnis des Menschen möglich. Der Weg zum Verständnis des Menschen führt genau ebenso über das Verständnis des Tieres, wie ohne allen Zweifel der Weg zur Entstehung des Menschen über das Tier geführt hat. Und die Evolutionäre Erkenntnistheorie behauptet dann logisch konsequent, dass auch das Verständnis der menschlichen Erkenntnisfähigkeit auf Grund der Kenntnisse stammesgeschichtlicher Zusammenhänge aus Ähnlichkeit und Unähnlichkeit des Verhaltens heutiger Lebewesen erfolgen muss.

An diesem Punkt lässt sich auch die, gerade auf dieser Unähnlichkeit menschlicher Erkenntnisfähigkeit mit allen anderen Lebewesen beruhenden Sonderstellung des Menschen erklären und rechtfertigen, die entgegen falscher Interpretation keiner so sehr betont hat wie Konrad Lorenz selbst. Diese Sonderstellung des Menschen, die ihn in seinen kognitiven Fähigkeiten von allen Lebewesen unterscheidet, ist auch ein über die vergleichende Verhaltensforschung hinausgehendes, durch paläontologische Funde belegtes Faktum, das auf eine Richtungsänderung der Evolution beruht: Denn es war nicht die Verbesserung der Sinneskanäle, sondern die des zentralen Verarbeitungssystems, welche die Hominidenevolution bestimmt hat. An diese Sonderstellung der biologischen Art Homo sapiens knüpft auch die Selbstrechtfertigung der naturwissenschaftlichen Methode an Denn der naturwissenschaftlichen Erkenntnis liegt nach Lorenz die „Annahme eines ganz bestimmten Verhältnisses zwischen der außersubjektiven Wirklichkeit und ihrer Erscheinung im Erleben des erkennenden Subjekts als eine gemeinsame Voraussetzung zugrunde, ohne die alle Naturforschung schlechterdings sinnlos wäre.“ Das war auch der Grund, weshalb die phylogenetische Erkenntnistheorie eine für Lorenz selbst überraschende, sofortige Zustimmung sehr verschiedener Forscher fand, wie Planck, Heisenberg (Physiker), Rein (Physiologe),Kühn (Biologe), Weizsäcker (Psychiater) u.a.m. Die auf die naturwissenschaftliche Erkenntnis selbstreferentiell angewandte evolutionäre Erkenntnistheorie leistet nicht nur eine Erklärung und Rechtfertigung der Tatsache, dass unsere apriorischen Anschauungen und Denkkategorien auf die Weit der mittleren Dimensionen, die unserer direkten Sinneserfahrung zugänglich sind, passen, indem sie den Wahrheitsgehalt solcher Erkenntnis mit ihrem Überlebenswert verknüpft, sondern liefert auch eine Kritik dieses phylogenetisch verstandenen Apriori. Sie sind keine unantastbaren, mit absoluter Notwendigkeit ausgezeichneten normativen Bedingungen aller Erfahrung, sondern nur – wie schon Mach feststellte – Erbstücke aus der phylogenetischen Vergangenheit, die in der Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis überwunden werden können und müssen.

Riedls Biologie der Erkenntnis

Während es bei Lorenz die Evolutionstheorie war, die erst der Vergleichenden Verhaltensforschung oder Ethologie, einen sinnvollen auf echter Verwandtschaft beruhenden Vergleich des Verhaltens verschiedener Tierarten und so auch des Menschen ermöglichte, war es die Methode der Vergleichenden Anatomie und Morphologie, die Riedl zu einer ganzheitlichen „Systemtheorie der Evolution“ führte. Auf diese Weise hat aber auch die Evolutionäre Erkenntnistheorie als „Biologie der Erkenntnis“ eine neue Dimension gewonnen. Zwar wurde dieser Ausdruck bereits von Popper 1972 gebraucht – aber lediglich als Metapher –, bei Riedl handelt es sich jedoch um eine wirkliche Biologie der Erkenntnis. Ausgangspunkt ist die von Lorenz zuerst propagierte aber teilweise wieder zurückgenommene Gleichsetzung von Leben und Erkennen. Riedl hätte zwar eine größere Akzeptanz unter den Philosophen erreicht, wenn er seine Version der Evolutionären Erkenntnistheorie den Buchtitel „Biologische Grundlagen der Erkenntnis“ gegeben hätte. Aber seine Ansprüche sind weitergehender als alle anderen Versuche, auch diejenigen von Lorenz. Während Lorenz in der „Rückseite des Spiegels“ betont, dass er die Ausdrücke „Erkennen“ und „Wissen“ nur für solche kognitive Leistungen verwenden will, die sich tief unter der Ebene des Bewusstseins abspielen, wie z.B. reflektorische Reize, fasst Riedl das Verhältnis von Leben und Erkennen radikaler und zwar im wörtlichen Sinn einer Gleichsetzung auf: „Alle lebendige Struktur enthält gespeichertes Wissen, etwas wie ein Urteil über die Gesetze, unter welchen sie existiert.“ So bildet etwa das Auge die Gesetze der Optik ab. Das bedeutet vielmehr als Mach behauptet hat, wenn dieser sagt, dass alle Erkenntnis das Produkt eines natürlichen Entwicklungsprozesses ist, der überlagert aber nicht ersetzt werden kann, sondern es wird von Riedl behauptet, dass dieser natürliche Entwicklungsprozess selbst ein Erkenntnisprozess ist. Die Mechanismen des Lebens sind für Riedl die Mechanismen des Erkennens. Daraus resultiert schließlich konsequent eine „Systemtheorie der Wahrheit“, die eine Kombination von Kohärenz- und Korrespondenztheorie darstellt und auf der Ebene der lebenden Organismen insofern ein Äquivalent hat, als die Korrespondenz eines Systems mit seinem Milieu ebenso Voraussetzung seiner Erhaltungschancen ist wie die Kohärenz oder Abstimmung seiner Teile und Funktionen untereinander. Das eine solche ganzheitliche Wahrheitstheorie auch auf alle Bereiche der wissenschaftlichen Erkenntnis anwendbar sein könnte, zeigen vor allem Riedls darauf folgende Arbeiten, mit denen er sich anschickte, insbesondere die „Spaltung des Weltbildes“ zwischen Natur- und Geisteswissenschaften aufzuheben – nach Lorenz eine gigantische Aufgabe, die er in „beinahe schon frevelhafter Weise“ in Angriff genommen hatte. Durch die unbeirrbare Konsequenz, mit der er an der Realisierung seiner hohen Ansprüche festhielt, wurde Riedl nicht nur zum beliebtesten Prügelknaben der Philosophen, sondern auch noch zu Lebzeiten von Lorenz zu einer neuen Leitfigur der Evolutionären Erkenntnistheorie.

Erhard Oeser